Zum achtzigsten Geburtstag von Peter Schermuly

Martin Mosebach

Peter Schermuly wäre am 19. Oktober - in zwei Tagen also - achtzig Jahre alt geworden. Er gehörte zu den Menschen, für die nichts in der sinnlich erfahrbaren Welt unbedeutend ist, schon gar nicht der Ort seiner Geburt, Frankfurt am Main, und seine Herkunft aus dem schweizerischen und lothringischen Zwischenland zwischen Deutschland und Frankreich, und gewiß auch nicht das Datum, das ihn zum Sternzeichen der Waage und unter den besonderen Einfluß der Venus brachte. Sein frommer Großvater sorgte dafür, daß der Neugeborene den Namen des Tagesheiligen erhielt, des heiligen Petrus von Alcantara, so daß bei ihm der Namens- und der Geburtstag zusammenfielen.

Der Vorabend des 19. Oktober, der 18. Oktober aber, gehört dem Evangelisten Lukas, den die Tradition zum Schutzpatron der Maler gemacht hat. Lukas war als Grieche nicht dem überlieferten jüdischen Bilderverbot verpflichtet, das auch die jungen Christengemeinden prägte, und so klingt die Legende, er habe die erste Muttergottes-Ikone gemacht, auch angesichts der schönen griechischen Portraits aus Ägypten, gar nicht so unwahrscheinlich. Auf jeden Fall spricht die Erzählung von Lukas, dem Madonnenmaler, von der dramatischen Auseinandersetzung, die in der jungen Gemeinde geherrscht haben muß, als die ersten Gemälde, die ersten Portraits von Heiligen in den Kirchen auftauchten: das war ein Tabubruch ohnegleichen, der nur von den höchsten Autoritäten, einem leibhaftigen Evangelisten, hingenommen werden konnte. Und so wurde Lukas mit vollem Recht zum Schutzherrn vieler Malerzünfte und Malerbünde der Geschichte, denn mit seinem Namen ist das Ende des Bilderverbotes in der christlichen Welt verbunden. Er ist der Pate des Bildes, genauer: des heiligen Bildes, des Bildes, das nicht bloß Abbild oder Dokument ist, sondern das eine eigene physische Wirklichkeit stiftet, einen Körper mit einer schimmernden, tastbaren Haut.

Denkbar weit scheint das Werk des Peter Schermuly von den Ikonen entfernt, die mit dem Namen des Evangelisten Lukas verbunden werden. In den ersten Jahren nach dem Krieg begann er zu malen, aber obwohl er die Gelegenheit hatte und sie auch gründlich wahrnahm, die alten Meister der Berliner Museen zu studieren, gab es für ihn keinen Zweifel, daß die Malerei der Zukunft abstrakt zu sein habe. Aber er unterschied sich von vielen seiner abstrakt malenden Zeitgenossen von Anfang an darin, daß er die abstrakte Malerei niemals als Folge und Ausdruck einer Revolution in der Kunst empfand. Er sah sie vielmehr als Fortsetzung einer Leidenschaft, die die Großen der westlichen Malerei, so war er überzeugt, im Geheimen immer angetrieben hatte: auf der Leinwand eine neue dichte Materie mit Hilfe von Ölfarben zu schaffen, oder: die Verwandlung von Ölfarbmaterie in alle denkbaren Substanzen der Welt. Das hatte für ihn die Ölfarbe mit dem Wein gemeinsam, der ja gleichfalls alle erdenklichen Geschmäcker in verwandelter und erhöhter Form annehmen und repräsentieren kann. Seit der Entdeckung der Ölfarbe hatte, so glaubte Schermuly, die Maler in Wahrheit nur dies eine beschäftigt und in Bann gehalten: die Farbe als jene Art Urschlamm anzusehen, aus der die gesamte materielle Schöpfung herauswachsen kann.

Wer die Bilder der westlichen Malerei von den Brüdern van Eyck an betrachtet, der findet in ihnen immer wieder neu die Annäherung an ein Ideal der Verstofflichung des Gesehenen, die Herstellung von Stoffen, die zur Undurchdringlichkeit und Festigkeit wirklicher Körper gelangen sollten. Es gehört zu den Mysterien der westlichen Kunst, daß die Maler dieses Ziel, das ihnen beinahe allen gemeinsam war, beschwiegen, als sei es das Geheimnis einer mittelalterlichen Bauhütte. Wie viele unter ihnen haben geschrieben und haben große Theorien formuliert, ohne an das Hauptstück

ihrer Kunst, die Verwandlung der Ölfarbmaterie, mehr als ein paar technische Hinweise zu wenden. Sie schrieben über Perspektiven und Proportionen, sie philosophierten über die Nachahmung der Natur oder die Rangordnung der Ideen, sie widmeten der Zeichnung intensive Betrachtungen, aber sie sprachen nicht über den wesentlichen Reiz ihrer Kunst: die Farbe, die vergessen läßt, daß sie Farbe ist, weil sie zu Körper und Stoff, zu Glanz und Schwere wurde. Und die Kunsthistoriker haben gleichfalls, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, vor allem das, was auf den Bildern abgebildet ist, zu ihrem Thema gemacht, und nicht, was die Bilder sind. Sie haben sich gern und äußerst geistreich mit allen Finessen der Ikonographie befaßt und sich mit den Fragen der Faktur, der Machweise, und der peinture, der Malweise, nur im Hinblick auf stilistische Fragen, auf die Frage nach der Manier abgegeben.

Es ist gewiß nicht falsch und nicht uninteressant, wenn die Kunsthistoriker deshalb auch heute beim Genter Altar vor allem diskutieren, was es theologisch bedeuten könnte, wenn die Gnade aus der Brust des Lammes in die rechte oder die linke Bildhälfte fließt, oder ob Courbet mit seinen „Steinklopfern" auf die schlimme soziale Situation dieser Steinklopfer, und mit seinen „Desmoiselles au bord de la Seine" auf die schlimme Situation der jungen Prostituierten hinweisen wollte, oder ob Cézanne, wenn er einen Apfel malte, damit beweisen wollte, daß man keinen Apfel mehr malen könne. Es bleibt damit nur die eigentliche Lebensbemühung der europäischen Maler unberührt: Menschen und Gegenstände zu malen, gewiß, aber vor allem eine umschlossene Fläche neuer, lücken- und luftloser Materie zu schaffen, in jedem Quadratzentimeter gehämmert wie der Silberschmied eine Wölbung hämmert, gestickt wie eine Stickerin eine skulpturale Broderie auf ein Stück Samt setzt, zusammengepreßt wie Kautabak, destilliert wie hochprozentiger Brand.

Und das war nicht der Ausdruck einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Modell, sondern der Königsweg, ihm ganz und gar gerecht zu werden: das Modell aus seiner scheinhaften, vielfach beeinflußbaren Zufälligkeit, seinem Zerfließen in Licht und Schatten, seinem filmhaften, wolkenhaften Vorüberhuschen, der körperlosen Bildchenhaftigkeit unserer Träume, kurz, dem Schemenhaften des Alltagsblicks zu erlösen und es wie den Ballastsack eines Fesselballons mit malerischer, schwerer Materie anzufüllen, einer Schwere, die ihm die Landung auf dem Boden der Wirklichkeit möglich macht.

Man versteht leicht, daß Schermuly bei einer solchen Sicht kaum jemals ein echter abstrakter Maler sein konnte; echte Loslösung der Farbe vom Gegenstand war ihm immer eine Denkunmöglichkeit. Auch als er abstrakt malte und jede gestalthafte Konkretisierung sorgfältig vermied, dachte er seine Farbigkeit immer in den Kategorien von Substanzen: er malte damals keine Äpfel, aber apfelhafte Materie, keine Brote und Augen, aber brotartige oder augenhafte Materie. Er beschrieb nicht Stein und Holz, aber ein „holzhervorbringendes" oder „steinhervorbringendes Sein", wie es die Philosophie des Raimundus Lullus hätte nenne können. Und ebensowenig verlor er als gegenständlicher Maler die Faszination vor der puren, gleichsam schockierenden Materialität seines Modells, die ihn weit mehr beherrschte als jedes intellektuelle Bildprogramm, jede literarisch zu definierende Bildidee. Niemals beschäftigte er sich länger mit Fragen des Bildaufbaus, des wirkungsvollen Arrangements seiner Objekte, obwohl er ein Verehrer der Akademie des neunzehnten Jahrhunderts und ihrer tausend wohlgeprüften handwerklichen Regeln war - aber diese Verehrung war eine ideelle und eine politische, sie hatte mit seinem Temperament und seiner Vorgehensweise nichts zu tun, keine Woche hätte er in der akademischen Zwangsjacke ausgehalten.

Er malte vorwiegend, was seine Frau ihm hinstellte oder was der Zufall sich zusammenfinden ließ, und er verfluchte oft genug bei der Arbeit die Schwierigkeiten, die sich aus diesen Zufallsarrangements ergaben. Die einzige Möglichkeit, solche Unbedenklichkeiten in der Vorbereitung zu korrigieren, war für ihn eine Intensität, die kein Fleckchen der Bildoberfläche aussparte; wie der Bootsbauer den Bootsleib mit Pech abdichtet, so mußte die Bildoberfläche bei ihm gleichsam kalfatert werden, um nichts Ungestaltetes mehr eindringen zu lassen. Schermuly schaffte in seinen Bildern die Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem ab; es sollte für ihn nicht mehr das bedeutungsträchtige hervorgehobene Objekt geben, das in einen kursorisch behandelten Hintergrund eingepaßt wird, es sollte vielmehr jedes Stück, ob es Teil des vor ihm stehenden Stillebens oder des sich in Malphantasien verlierenden Hintergrundes war, mit gleicher Festigkeit aufgebaut sein, man könnte geradezu von einer Demokratie der Sujets sprechen, von unbedingter Gleichwichtigkeit und Gleichgewichtigkeit sämtlicher Bildgegenstände. „Ich habe nichts vernachläßigt" -dies Wort seines Lieblingsmalers Nicolas Poussin wiederholte er sich oft wie ein Mantra.

Während des Malens - das war bei ihm ein unerhört langsamer Vorgang: kleine Bilder beschäftigten ihn oft wochen- oder gar monatelang, in denen er die Farben auf der Leinwand hin- und herschob wie ein Schachspieler nach langem Nachdenken seine Figuren - vertrockneten die vor ihm aufgebauten Früchte, welkten die Blumen, verstaubten die Blätter. Es war, als würde ihnen nicht nur die Frische, sondern ihr ganzer Sitz in der Welt, ihr Dasein aus den Körpern gezogen, als würde ihnen die Realität regelrecht ausgesaugt, um auf dem Leinwandviereck immer eindringlicher und leuchtender aufzublühen.

So entstanden diese Stilleben, die sich jeder ikonographischen Deutung verweigern, die aber von dem Staunen erfüllt sind, daß es diese Blumen, diese Steine und Muscheln wirklich gibt, als könnte es sie ebensogut auch nicht geben. Sie lassen an die große Dichtung der Dänin Inger Christensen denken, an ihr „Alphabet", dessen berühmte erste Zeilen, mit dem Buchstaben A beginnend, lauten: „die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es, / die farne gibt es; die brombeeren, brombeeren / und brom gibt es; und den Wasserstoff, den Wasserstoff / die zikaden gibt es; wegwarte, chrom / und Zitronenbäume gibt es; die Zikaden gibt es; die zikaden, zeder, zypresse, cerebellum / die tauben gibt es; die träumer, die puppen / die töter gibt es; die tauben, die tauben; / dunst, dioxin und die tage; die tage / gibt es; die tage, den tod; und die gedichte / gibt es; die gedichte, die tage, den tod ..."

Vom Urschlamm der Farbe habe ich gesprochen, und wenn man die Palette Schermulys in den letzten Jahren betrachtete, dann mußte man wirklich an Erde, an Lehm und Schlamm denken, als wolle er seine Welt der sichtbaren Dinge wie der große Töpfer sämtlich aus Ton und Erden herstellen. Er vereinfachte seine Palette radikal, er wollte nur noch mit den Farben malen, die die Pompejaner und die Maler von Fayum in Ägypten und der späte Tizian nahmen: ein Ockergelb und ein Sienarot, dazu schwarz und weiß. Daraus vermochte er, so unglaublich es klingt, eine Riesenpalette, selbst Grün- und Blautöne abzuleiten.

Nun ging es nicht nur darum, mit Farben Körper und Räume zu beschwören, sondern auch aus Nicht-Farben strahlende Farbe zu gewinnen, die sich musikalisch in die aus denselben Tönen entwickelten Nachbarfarben hineinschmiegten. Der Begriff Tonmalerei war für ihn ganz wörtlich zu verstehen: er nannte einige Pianisten, vor allem Alfred Cortot und Walter Gieseking, seine eigentlichen Lehrer in der Malerei. Und so begreife man seine Objekte denn nicht nur als von einem stillen, verschwiegenen Leben erfüllt, sondern auch mit einer stillen Musik, mit ins allmählich Unhörbare ausschwingenden, überraschenden und zugleich unbestimmbar wohltuenden Akkorden eines großen Klangkörpers.

Viele Jahrhunderte sind vergangen, seit der Evangelist Lukas der neuen christlichen Kultur das Recht, sich ein Bild zu machen, errungen hat, und die Bilder haben in diesen Jahrhunderten vielfache Transformationen erlebt. Von Ikonenkunst, so haben wir gesagt, ist die Malerei eines Peter Schermuly denkbar weit entfernt. Und doch hat sie mit diesen uns entrückten ersten Bildern etwas gemeinsam: das Bestreben, mehr als nur Abbild zu sein, in ihrer inspirierten Materialität mehr von der dargestellten Sache zu offenbaren, als sie selbst dem bloßen Auge preisgäbe, Zeugnis abzulegen, mehr noch, Beweis zu sein für die Wirklichkeit der Welt.